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Der grosse Tanz
Carneval in Trinidat
Kleider machen Leute und Masken zeigen Menschen. Das Hausmädchen regiert den Staat, denn unten ist jetzt oben. Der Karneval löst alle Gegensätze auf und zeigt uns schon auf Erden den Himmel in der Hölle. Wer dies erleben will kommt am besten nach Rio, wo man allerdings als Tourist wie ein Christbaum zu Lichtmess abgeräumt wird oder nach Trinidad. Dort ist der Karneval für Einsteiger, Fortgeschrittene und Ausgeflippte.
Je südlicher eine Karibikinsel liegt, desto weiter ist sie von der touristischen Rennstrecke entfernt. Trinidad & Tobago ist ganz weit unten, und die Kreuzfahrtsschiffe bleiben normalerweise nur so lange, bis die Ansichtskartenständer in Hafennähe leergekauft sind. Also zu kurz, um das Lächeln aus den Gesichtern der Trinidader weg zu fotografieren oder sonstige bleibende Schäden anzurichten. Sonst relativ unbekannt, ist der Karneval von Trinidad nur unter den Yachties schon längst ein "Must. Das kommende Ereignis hat hunderte Segelyachten mit Fahnen und Wimpeln aus aller Welt angezogen. Sogar das kleine Österreich ist unter Rückbesinnung auf alte Traditionen anscheinend wieder dabei, die Weltmeere zu erobern und immerhin dreimal vertreten.
Auch unser Zwölf-Meter-Katamaran dümpelt, rotweißrot beflaggt, in brackigem Wasser vor dem ausnahmsweise gar nicht so elitären Yachtclub von Port of Spain. Allgemeiner Treffpunkt und Nachrichtenbörse ist natürlich die dazugehörige Bar, wo zwei dunkelhäutige Bienchen emsig an der Rumpipeline zu den immer durstigen Kehlen arbeiten. Abstinenz ist zurecht nicht unbedingt jener Begriff, der einem zuerst einfällt, wenn vom Segeln die Rede ist. Schließlich muss promillemäßig alles nachgeholt werden, was man in den langen einsamen Nächten, mit nur der See als Braut, versäumt haben könnte. Aus eigener Erfahrung weiß ich außerdem, dass die Fremdsprachenkenntnisse proportional zur genossenen Alkoholmenge zunehmen. Das multilinguale Seglerlatein rutscht dermaßen geschmiert viel besser von der Zunge. Solche geselligen Stätten bilden oft ein ernstzunehmendes Hindernis für jeden Landspaziergang, an dem schon viele gescheitert sind. Nachdem wir am Vortag hier geankert haben, bin auch ich an einigen ´Planters Punch' gestrauchelt, die mir ein mitteilsamer Schwede rücksichtslos in den Weg gestellt hat.
Heute bin ich mit dem festen Vorsatz unterwegs, endlich die Stadt zu besichtigen, und ein wartendes Fluchtauto begünstigt mein Entkommen. In der Karibik generell, aber hier im besonderem hört man ein Taxi meist, bevor man es sieht. Musikalische Ablenkung während der Fahrt ist teilweise auch nötig, da an vielen Fahrzeugen, außer der Stereoanlage und der Hupe, nichts auch nur irgendwelchen technischen Vorschriften entspricht. Die Fortbewegung geschieht anscheinend durch Schalldruck und der Motor samt Batterie dient nur dazu, den Reggae mit der nötigen Power zu versorgen. Mein Deckhaar ist jedenfalls vom hämmernden Bass streng nach hinten geföhnt, als ich mich in einem Großstadtgetümmel wiederfinde, das mit dem gemächlichen Leben auf den anderen Antilleninseln nichts mehr gemein hat.
Im Zentrum lehnen sich kleine Hexenhäuschen aus der Kolonialzeit an zehnstöckige Bürogebäude, die unentwegt ein Rassengemisch wie aus der Benettonwerbung ausspucken. Gewandet in schimmernde Saris, bodenlange Kaftane oder in grellbunte T-Shirts schiebt sich eine multikulturelle Menschenmasse an Kirchen, Hindutempeln oder an der Synagoge vorbei. Natürlich gibt es hier auch Moslems. Diese brauchen aber für ihre Gebetsteppiche viel Platz und haben, wie ich aus meinem Reiseführer weiß, ihre Moschee samt Minarett und Muezzin an den Stadtrand verlegt. Am Rand der Frederick Street hocken Schwarze friedlich neben Asiaten und Inder neben Mulatten vor ihren zum Verkauf ausgebreiteten Waren. Sich beim Anpreisen ihrer Güter gegenseitig Überschreiend, versuchen sie gemeinsam die vorbeieilende Menge aufzuhalten um ihr einige TT-Dollars aus den Taschen zu ziehen.
Ich flaniere an orientalischen Bazaren, modernen Einkaufszentren, kreolischen Restaurants und Luxusboutiquen vorbei, bis mich der Menschenstrom vor der Gran Savannah abliefert. Wo sonst rassige Rennpferde mit den Hufen scharren, warten heute rund 150 kleine Piraten, Zauberer, Schmetterlinge nicht minder nervös auf den Start.
"Kiddys Mas" wirbt, sichtlich erfolgreich, ein riesiges Transparent über dem Gran Stand, denn tausende Kinder, teilweise noch in ihren Schuluniformen, schleifen ihre Eltern zielstrebig zu den Tribünen. "Die Zeiten, als die begeisterten Sprösslinge, noch selbst kreativ, ihre Kostüme aus Pappmaschee und Papierfetzen zusammengestoppelt haben, sind leider vorbei", bedauert die Mutter eines braunen Engels in lockig-goldenem Haar. Sie reicht mir eine Tüte mit Erdnüssen und erzählt, dass noch vor wenigen Jahren der stolze Gewinner nach Maharadschamanier und unter den neidischen Blicken der Mitstreiter, mit Süßigkeiten aufgewogen wurde. Im Zeitalter von Parodontose und Karies winken dem Sieger nur noch Ehr und Geld. Der schnöde Mammon beflügelt jetzt vor allem die Angehörigen, und wenn deren Phantasie nicht ausreicht, werden professionelle Designer beauftragt. Auf diese Weise werden immer aufwendigere und tollere Kreationen geschaffen, und der Nachwuchs um den es eigentlich gehen sollte, degeneriert zum Statisten.
Trotzdem wirkt das sich mir offenbarende Bild wie eine zum Leben erweckte, großartige Illustration aus einem Kinderbuch. Es würde mich nicht wundern, wenn die Elfen flügelschlagend davonflögen oder wenn der kleine Drache mit dem beschuppten Styroporkopf, sich über die Prinzessin in der Reihe vor ihm hermachte. Das zweibeinige Feuerwehrauto, das neben ihr parkt, würde natürlich sofort eingreifen, mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene um ihr Leben kämpfen und das Monster erschlagen. Wenn sie nicht gestorben sind, dann …
Die Realität ist für die Akteure im Moment zwar weniger abenteuerlich, aber genauso aufregend. Auf den Brettern, die für einen kurzen Auftritt lang die Welt bedeuten, zeigen sie vor der Jury ihr Bestes. Den Calypso im Blut, tanzen sie wie die Großen. Die Hüften winden sich und die Beinchen zucken mit den Armen um die Wette im Kampf um die beste Bewertung.
Am nächsten Morgen lerne ich Chief Minshall, einen energischen Mittdreißiger, bei einer Pressekonferenz kennen. Er ist der Boss einer Maskentruppe mit 4000 Mitgliedern, die vor zwei Jahren den begehrten Titel "Band of the year" gewonnen hat. Im Moment wirkt er ziemlich schlapp und übernächtigt. Kein Wunder, denn dies ist für einen richtigen Rasta auch noch nicht die richtige Zeit, sich stundenlanges Gelaber anzuhören. Erst bei seinem Frühstücks-Rum&Coke in einer Bar mit dem diskreten Charme einer Wartehalle wird er langsam gesprächig. Er erzählt mir von den weißen Plantagenbesitzern/die im vorigen Jahrhundert schön langsam die Schnauze vollhatten, während des Faschings immer nur brave Menuette mit prüden Landpomeranzen zu drehen, während vor den Sklavenhütten der Bär los war. Ich erfahre von den ersten Karnevalsumzügen, die sich, obwohl immer wieder verboten, zu einem Mittel des Protestes gegen wirtschaftliche und soziale Unterdrückung entwickelten.
Zu dieser Zeit entstand auch der Calypso, in dessen Texten ganz spontan, voller Sarkasmus und Spott, Missstände angeprangert und bekannte Persönlichkeiten auf die Schaufel genommen wurden. Zum kommenden Karneval befragt, überschlägt er sich förmlich mit Superlativen jeder Art und seine Augen beginnen zu glänzen. Erst bei "The greatest show on earth" kann ich seinen Redefluss unterbrechen. "Der Karneval von Rio ist aber auch nicht unbedingt mickrig", wage ich unschuldig zu behaupten. Diese Bemerkung hätte ich mir sparen können, denn jetzt plötzlich munterwerdend seine langen Zeigefinger zu Pistolen, und es ist als ob Worte wie Kugeln geflogen kämen. Gerade noch rechtzeitig gelingt es mir. hinter meiner Kamera in Deckung zu gehen. Nachdem ich einige Male auf den Auslöser drücke, zeigt er sich wieder von seiner Schokoladenseite, und seine Mundwinkel sind nach oben geklappt. Chief bestellt sich sein inzwischen drittes Frühstück beim Kellner, der fast auf dem Tresen liegt, um auch noch mit ins Bild zu kommen, und die Welt ist wieder in Ordnung.
Nichts macht einen Trinidader stolzer und gastfreundlicher als ein Ausländer, der ganz wild darauf ist, sich in den Karneval zu stürzen. Trotz meines Missgeschickes lädt Chief mich ein, am Abend eine Fete zu besuchen, um, wie er meint, die Macht des Soca über den Verstand kennenzulernen. "Jah, miään, if you want chickens and good music, this gonna be the right place", sagt er Stunden später, an der Bar des Yacht-clubs lehnend und schon wieder oder noch immer Rum&Coke nippend.
Seine Dreadlocks hat er jetzt in einen rotgelbgrün-geringelten. Strumpf gestopft, der ihm irgendwie abstrakt vom Hinterkopf weg steht. In diesem rastatypischen Accessoire gut versteckt, holt er ein Säckchen mit Ganja (Marihuana) hervor. Völlig ungeniert dreht er mit geübten Fingern einen überlangen Spliff (Joint), dem er jetzt seine ganze Aufmerksamkeit widmet. Die Hühner, von denen er spricht, sind hierzulande zwar sehr appetitlich, legen aber sicher keine Eier. Unter Musik versteht er in diesem speziellen Fall den Soca, der aus der Synthese von Calypso und dem amerikanischen Soul entstanden ist. Chief ist wie der Rest der Bevölkerung Fachmann auf beiden Gebieten und außerdem noch im Anbau gewisser Kräuter, deren Wirkung er sich jetzt bedient.
Die „Fete“ oder auch „Jump Up“ genannt, findet auf einem ummauerten Platz von der Größe eines Fußballfeldes statt. Nachdem mein Eintrittsgeld in einem vergitterten Mauerloch verschwindet, schiebt man mich, von der Menge eingekeilt, durch eine Tür und ich sehe schwarz. Zuerst werde ich das ungute Gefühl nicht los, in einer Jahresversammlung der Black-Panther-Bewegung gelandet zu sein, denn unter den Massen gibt es kein Gesicht, das heller wäre als mein Frühstücksmokka ohne Milch. Dieser Eindruck mag vielleicht von der so gut wie nicht vorhandenen Beleuchtung stammen, aber trotzdem habe ich das dringende Bedürfnis, mich kräftigst und eiligst mit schwarzer Schuhcreme zu bemalen. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewähnt haben und mehr erkennen als weiße Augen und Zähne, bemerke ich zu meiner Beruhigung, dass niemand sich um mich zu kümmern scheint. Außerdem hat Chief inzwischen einige seiner Freunde aufgegabelt, und wir drängen uns auf eine der vier Bühnen zu, die von riesigen Boxentürmen eskortiert werden. Mighty Arrow und seine Jungs haben sich inzwischen zu ihren Instrumenten vorgetastet und legen in einer Lautstärke los, dass ich mich am Bier festklammern muss, um nicht umgeblasen zu werden. Übergangslos kommt Bewegung in die Wartenden. Jeder schnappt sich einen Körper, von dem vermutet wird, dass er zum jeweils anderen Geschlecht gehört und gemeinsam lässt man, von der Musik aufgepeitscht, die Gliedmaßen rotieren.
Auch ich bin schnell als williges Opfer erkannt. Von zarter Frauenhand geführt, wiege ich mich schon nach kurzer Einleitung im 4/4 Takt: Ins Mikrophon wird geröhrt, dass man guten Wein schon zum Frühstück trinken sollte, und mir tropft der Schweiß von der Stirn. Beim Soca bewegt man, soweit ich feststellen kann, hauptsächlich den Oberkörper das aber sehr lebhaft. Allerdings hätte man bei diesem Gedränge für die Füße auch kaum Platz gefunden.
"Bills, bills everywhere – so much bills to pay“ tönt es elektrisch verstärkt aus den Boxen. Jeder der Anwesenden, mich eingeschlossen, scheint dieses Problem zu kennen und tanzt noch eifriger. Platz King Pharao hat jetzt auf der zweiten Bühne das musikalische Kommando übernommen, und nach einem gekonnten Percussion-Solo bearbeitet sein Bläserquartett meine Großhirnrinde. Der Rhythmus ist vom langsameren chipping' zum wining übergegangen. Jetzt 1ässt man sein Becken kreisen, um es im richtigen Augenblick auf das seines Partners zu klatschen. Chief hat etwas Platz um sich geschaffen und zeigt, was er kann. Seine Beine scheinen nur noch ab und zu Bodenkontakt zu haben. Zwischendurch kegelt er sich, wild mit einer miniberockten Schönheit balzend, fast die Hüftgelenke aus. "Dance or die!", singt Lord Nelson in noch wilderem. Rhythmus. Er meint es ernst. Zumindest meine Gelenke haben sich verselbstständigt und bewegen sich wie in Trance automatisch weiter. Schräg über uns betrachten die Gäste eines anliegenden Luxushotels schläfrig und fassungslos das ihnen dargebotene Getümmel. Schallschutzfenster und Oropax haben keine Chance gegen die dröhnenden Bässe. Den erlösenden Schlaf werden sie wahrscheinlich, genau wie ich, erst im Morgengrauen finden.
Noch immer taub von der vorigen Nacht, versuche ich meinen Kater im Meer zu ertränken. Genaugenommen sind es ja zwei, denn jeder meiner Muskeln, ich wusste bis dato gar nicht, dass es so viele sind, schmerzt, als hätte ich in einem plötzlichen Anfall von Masochismus die Nacht in einem Fitness-Studioverbracht. Das warme Wasser lässt meine Lebensgeister zwar wieder halbwegs erwachen, aber das Vergnügen wird von ganzen Schwärmen tennisballgroßer Quallen empfindlich gestört. Gottseidank steht für heute in Sachen Karneval nur eine leichte Entspannungsübung auf dem Programm. Ein anderer wichtiger musikalischer Exportartikel, der von hier aus den karibischen Raum erobert, hat ist der Steelbandsound. Schon öfters habe ich unter Palmen, den Rumpunsch in der Hand, einer kleinen Combo gelauscht, die auf ihren Pans "White Christmas" für die entzückten amerikanischen Touristen runterspult. Was ich aber heute bei der "Junior Steel-band Competition" zu hören und zu sehen bekomme, hat mit dem Urlauberkitsch der Marke "Isn't it lovely, darling!" nichts mehr zu tun.
Man stelle sich vor, dass ein Orchester von 80 Mann außer Calypso auch Schuberts "Ave Maria oder Tschaikovskys Slavenmarsch auf umgebauten Ölfässern spielt. Vor kurzem hätte ich noch gedacht, dass die alten Meister, dermaßen vergewaltigt, vor Gram in ihren Gräbern rotieren würden. Jetzt glaube ich, dass so mancher von ihnen, vom Dargebotenem begeistert, die eine oder andere Partitur auf den neuen Klangkörper angepasst hätte. Ein Dirigent gibt die Einsätze, und aus hunderten Blechtrommeln tönt es exakt von andante bis allegro molto. Kaum einer von den Musikern kann Noten lesen, und jedes neue Stück wird sozusagen Schlag auf Schlag einstudiert. Dies ist eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass jede Band mindestens zwanzig, teilweise sehr lange Titel auf dem Programm hat. Die sechzehn besten Schulbands treten solange gegeneinander an, bis der Gewinner feststeht. Dieses Jahr hat es die 'Lavantille Junior Secundary' mit "Get something to wave", einem astreinen Soca, geschafft. Klassische Musik passt, wenn ich es mir recht überlege, doch nicht so gut in dieses Klima und schon gar nicht während des Karnevals.
Jetzt ist es endlich soweit. Am Rosenmontag oder am Ole mas", wie er auf kreolisch heißt, ist alles auf den Beinen, das tanzen oder zumindest hinken kann. Die tollen Kostüme hat man sich noch bis morgen aufgehoben. Nur einige Männer tragen monströs ausgepolsterte Damenkleidung. Andere nuckeln, in übergroße Windeln gewickelt, Rum aus Babyflaschen. Die Mehrheit hat sich nur irgendwelche Tücher übergeworfen oder am ganzen Körper mit Farbe beschmiert. Die Temperatur ist auf 38 Grad im Schatten nestlegen, und der Asphalt ist so heiß wie eine Herdplatte. Von solchen Kleinigkeiten 180t man sich natürlich nicht aufhalten. Entweder werden in periodischen Zeitabständen einfach Kleidungsstücke fallengelassen, oder man kühlt sich innerlich mit Bier und Rum&Coke. Den Anfang einer Gruppe bildet immer ein im Schritt fahrenden Lastwagen, auf dessen Ladefläche sich eine Socatruppe mit der Verstärkeranlage den Platz teilt. Dahinter zumindest sich, zumindest vom Rhythmus berauscht, jede Altersklasse. Vom Teenie bis zur Omi. Manchmal tanzt so eine alte Dame noch exstatischer als ihre Enkelin und trägt auch das aufreizendere Kostüm.
Ehen war ich noch Zuschauer, und schon bin ich mittendrin. Eine Hand hat mich einfach gepackt, in den Menschenpulk hineingezogen und mich dadurch zum Soca verurteilt. Von einigen molligen Mulattinnen angefeuert, lasse ich bereitwillig die Beine wirbeln. "Hey man, this is a carneval for black people!", meint ein bemalter Jüngling grinsend. Bevor ich reagieren kann, hat er in seinen Topf gegriffen und mich von oben bis unten mit Ruß beschmiert. "Gar keine schlechte Idee, um Rassenprobleme zu lösen", denke ich anerkennend und setzte ihm zum Dank mein volles Bier an die Lippen. Erst als die Dose leer ist und ihm der hellbraune Saft auf die Füße plätschert, setze ich ab und reiche ihm die Hand zur Verbrüderung.
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Die Band vor mir hat jetzt den Dollarwine angestimmt, zu dem sogar ein eigener Tanz kreiert wurde, gegen den der südamerikanische Lambada absolut puritanisch wirkt. "Cent, five Cents - ten Cents - Dollar" kreischt der Leadsänger und hunderte Hinterteile schnalzen abwechselnd nach links, zurück, nach rechts und nach vor. Beim Refrain "Dollar, Dollar....Give me dollar" bücken sich die Mädels, und alle großen und kleine Buben klopfen, sehr eindeutig zweideutig, von hinten darauf. Dermaßen beschäftigt hat jemand versucht, meiner Geldbörse zu grabschen. Aber keine Angst! Erstens nimmt man sowieso nur so viel Bares mit, wie man unbedingt benötigt. Und zweitens spielen die Taschendiebe hier noch in der dritten Liga. Sie üben zwar fleißig, verheddern sich aber an der Kleidung oder lassen, wie in meinem Fall, die Beute fallen.
Je später der Abend, desto ausgelassener die Stimmung. Die Unterschiede zwischen Chaos und Ordnung, Lust und Liebe, Heim und Straße werden aufgelöst. Systematisch darf man hier alle Exzesse praktizieren, und das will etwas heißen, in einem Land das alles andere als prüde ist. Gegen Mitternacht schlägt schließlich auch der Exhibitionismus Purzelbäume. Sogar gynäkologisch Interessierte kommen, bei den immer knapper werdenden Kostümen auf ihre Kosten.
Wie viele Cuba Libres waren es bis jetzt? Ein teuflisches Zeug. Es hält wach und peitscht die Sinne auf. Den Alkohol schwitzt man aus, aber die Kontrolle über sich hat man trotzdem schon längst verloren. Nein, sich dagegen wehren ist zwecklos. Der Tanz, die Leute, die Nacht es reißt einen mit.
Ich kann es nicht fassen, dass der Höhepunkt des Treibens erst heute stattfindet. Eine weitere Steigerung scheint mir unmöglich. Am Vaval oder Faschingsdienstag werden auch die Kostüme in die Schlacht geworfen, die in zwanzig Clubs entworfen und genäht wurden. Jeder Verein hat einen König und eine Königin, die schon gestern bei einem Wettbewerb prämiert, heute einen Faschingszug anführen. Die anderen, bis zu 5000 Mitglieder, folgen dahinter und tragen einfachere Variationen des gleichen Themas. Heuer ist Roderick Snell mit dem Flug des Drachen', einer fünf Meter hohen Konstruktion, die sogar Feuer spuckt, "King of the year". Ein ebenso großer und farbenprächtiger Pfau aus Spitze mit Straußenfedern garniert, wurde zur Queen.
Eine dieser preisgekrönten Figuren an der Spitze zu haben, erfüllt natürlich mit Stolz und spornt trotz der relativ frühen Stunde dementsprechend an. Viele Zuseher, die bisher noch unbeteiligt waren, werden von den Wogen enthusiastischer Maskierter buchstäblich mitgerissen. Ich werde von einem weiblichen Paradiesvogel einfach umarmt und geküsst. Ihr Lippenstift ist so dick aufgetragen, wie die Marmelade auf einer Frühstückssemmel, und bald sehe ich aus wie ein Zirkusclown.
Und wieder dröhnt mir der Wave von vorne und hinten in mein Gehirn. Die Bässe wühlen sich in den Magen, lassen die Restpromille kochen und meine Beine zucken. "Durst wird durch Karib erst richtig schön". schreit das Plakat einer Bierwerbung auf einem Laster vor mir. Wie auf ein geheimes Zeichen bekomme ich wirklich eine kühle Flasche gereicht. Man teilt, was man hat, und lacht. Diese Fröhlichkeit steckt an. Gegen diesen Virus gibt es keinen Impfstoff. "Do what you want!", tönt es aus den Boxen und wirklich werden alle Rangordnungen und Institutionen außer Kraft gesetzt. Heute ist alles anders. Die Schönheit der Körper und die Pracht der Kostüme schaffen kurzzeitig eine neue Hierarchie. Plötzlich kommt der Umzug zum Stillstand. Eine andere Band mit tausenden Gefolgsleuten kreuzt unseren Weg. Es kommt zum Calypsokampf. Jede Kapelle erhöht ihre Lautstärke und versucht mit ihrem Lieblingslied die andere aus dem Tat zu bringen.
Mich hat dieser verrückte Pulk schon wieder ausgespuckt, aber es gibt kein Rasten. Einen Häuserblock weiter packen mich zwei Damen am Arm und zerren mich vom Bürgersteig auf die Straße, hinein in einen menschlichen Blumenstrauß. Direkt über mir, auf ihrem Fahrzeug, prügeln so an die zehn Männer auf ihre überdimensionalen Pauken und mir die Gehörknöchelchen durch das Trommelfell. BummBummBammBam. Ein Entrinnen ist unmöglich. Eingequetscht zwischen zwei Mammies, die mir ihre schwitzenden Hüften unentwegt in die Seiten stoßen, tanze ich den Rest der Nacht mit 300 000 anderen Verrücktgewordenen. Geheiligt sei der Karneval und gebenedeit die, die es aushalten.
AMEN!
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